Schamgefühl: Warum uns die destruktive Scham das Leben schwer macht

Und auf einmal kam sie wieder über mich. Seit Tagen schon hatte sie auf den besten Moment gelauert, um mir das Leben zur Hölle zu machen. Meine alte Feindin die Scham, sie hatte sich wieder ihren Weg gebahnt. 

Seit Jahren beschäftige ich mich nun mit der Scham-Forschung, und obwohl ich mittlerweile fast alle Hintergründe und alle Tricks kenne, hat sie sich wieder mit aller Macht in Erinnerung gebracht. Mit Sätzen, wie:

  • Du bist nicht gut genug
  • Du bist zu dick
  • Du wirst scheitern
  • Du hast Fehler gemacht

feuert mein Hirn in Stakkato wie ein kaputter Presslufthammer. 

Ich habe schon wieder vergessen, was diesen Zustand diesmal hervorgerufen hat, aber ich weiß mittlerweile, dass ich ihn besiegen kann. Jahrelang hatte die Scham mich definiert - das lasse ich nun nicht mehr zu. Denn ich weiß mittlerweile sehr genau, womit ich es zu tun habe - und das solltest du auch! 

Aber was ist eigentlich Scham? Woher kommt sie, wie und warum geißelt sie uns und wieso zählt sie zu den größten Tabus unserer Gesellschaft? 

 

Was ist Scham und welche Arten gibt es?

Scham ist eine schmerzhafte, selbstbewusste Emotion, in der man das gesamte Selbst als fehlerhaft empfindet. Seit der Recherche zu meinem Buch »No Shame« frage ich die Menschen, denen ich begegne, wann sie sich das letzte Mal geschämt haben. Die Antworten, das kannst du mir glauben, sind wirklich verblüffend! Niemand ist frei von diesem Gefühl, wirklich niemand. 

Wer ist noch nicht in die Farbe einer sonnengereiften Tomate geschlüpft, wenn ihn eine Peinlichkeit unvermittelt überrumpelt hat? Wir erröten, wenn wir uns vor anderen unmittelbar schämen, doch die Scham sabotiert uns auch ganz mühelos ohne Publikum. Aber auch durch Bloßstellung oder Beschämung durch andere Menschen in Form von Demütigungen oder Kränkungen, können Schamgefühle in uns auslöst werden.

Allgemein kann man die Inhalte der Scham folgendermaßen auflisten:

  • Minderwertigkeitsscham (körperliche Größe & Attraktivität, Stärke, Leistung, Fähigkeiten)
  • Anpassungsscham (Abhängigkeit/Unabhängigkeit)
  • Intimitätsscham (Scham vor Sexualität)
  • Körperscham (Exkremente, Periode)
  • Gruppenscham (Fremdschämen)
  • Traumatische Scham (Traumatische Grenzverletzungen)
  • Die moralische Scham (Gewissensscham)
  • Empathsiche Scham (Angst vor Zugehörigkeitsverlust)

Diese Liste könnte man noch endlos fortführen, denn es gibt praktisch keinen Bereich im Leben, ob Gefühle, Gedanken oder körperliche Aspekte, der nicht schambeladen sein kann. 

 

Warum schämen wir uns? Wie destruktive Scham entsteht

Scham entsteht, das wissen wir aus der Forschung, schon im Kleinkindalter. Babys drehen bereits die Köpfe weg, und Kinder und Jugendliche werden schnell rot, wenn sie sich ertappt fühlen. Die destruktive Scham bildet sich vor allem bei Kindern, die zu oft die »falsche« Rückmeldung erhalten, wo ein klares Missverhältnis zwischen der Erwartung des Kindes und der Reaktion der Bezugsperson herrscht. 

Auch für Freud entsteht Scham in der Kindheit vor allem durch die Empfänglichkeit für moralische Strafreize der Eltern. Er beschreibt diese Art der Scham, die auf kindlicher Abhängigkeit und Hilflosigkeit basiert, als Sozialangst. Aus dieser Angst vor Bestrafung können bis ins Erwachsenenalter schnell Schuldgefühle reifen. 

Mich persönlich führte das Schicksal in meinen Vierzigern nach Indien, wo ein Brahmane mich zur Seite nahm und zu mir sagte: »Weißt Du, Jessica, ihr westlichen Frauen habt alle das gleiche Problem. Ihr wachst auf im Glauben, nicht gut genug zu sein. Das habt ihr intellektuell sogar begriffen. Aber ihr habt nicht verstanden, was darauf folgt. Denn auf das ‚ich bin nicht gut genug‘ folgt ‚ich verdiene Bestrafung‘. Und das ist euer größtes Problem.« 

Da hielt ich den Atem an. Das war das Puzzleteil in all meinem Wahnsinn, das mir gefehlt hatte! Endlich begriff ich. Ich hatte mich selbst bestraft. Jahrzehntelang. Meine Scham für meine Unzulänglichkeit zwang mich geradezu, mich andauernd selbst zu bestrafen. Doch das Gute daran war: Ich hielt endlich das Ende eines Gefühlsknäuels in der Hand, das ich nun entwirren konnte.

Scham hat sich zu einer unerkannten Seuche entwickelt, die die Gesellschaft unterwandert, die Einzelne ins Unglück stürzt und unser Sozialleben immens beeinflusst.
Jessica Libbertz

Toxische Scham: Warum Scham uns krank machen kann

Bei Erwachsenen zeigt sich Schamgefühl häufig in Form von einem gesenkten Blick, breiten Grinsen, verlegenen Lachen oder Stottern. Neben diesen scheinbar harmlosen Reflexen, kann die Scham aber auch schlimmere Auswirkungen haben. So kann akutes Schamgefühl auch Stressreaktionen, wie ein erhöhter Puls, Luftknappheit, innere Unruhe, Schweißausbrüche, Schwindel und Herzklopfen hervorrufen. 

Wissenschaftler:innen haben mittlerweile sogar herausgefunden, dass Scham nachweislich einen äußerst negativen Einfluss auf unser Immunsystem hat und uns sogar krank machen kann.

So erkannte die amerikanische Wissenschaftlerin Sally S. Dickerson, dass die seelischen Einflüsse der Scham eine erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung zur Folge haben können. Sie fand heraus, dass im Tierreich der Botenstoff Zytokin, der das Zellwachstum fördert und die Verbreitung von Viren hemmt, bei den unterwürfigen Tieren stark anstiegen ist. 

Nach dieser bahnbrechenden Erkenntnis entwarf sie eine weitere Versuchsreihe, die am Menschen durchgeführt wurde. Die Probanden sollten sich täglich mit ihren Fehlern auseinandersetzen und sich besonders schambehaftete Momente aus ihrem Leben von der Seele schreiben. Das Ergebnis dieser Studie zeigte einen deutlichen Anstieg des Zytokin TNF alpha und klassische Entzündungssymptome, wie Hitzewallungen, Schwellungen, Rötungen und Schocksymptome. 
 

Dickerson fand zudem weitere Zusammenhänge von Scham und Entzündungssymptomen bei Proband:innen, die mit Ablehnung, Isolation und Depressionen zu kämpfen hatten – alles Umstände, die eng mit Schamgefühlen zusammenhängen.

Natürlich kann die Intensität, wie wir Scham empfinden und damit umgehen, von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation ganz unterschiedlich ausfallen. Während der eine lediglich ein ein Gefühl von peinlicher Berührtheit empfindet, möchte die andere am liebsten im Boden versinken oder sich in Luft auflösen.

Nichtsdestotrotz hat sich Scham zu einer unerkannten Seuche entwickelt, die die Gesellschaft unterwandert, die Einzelne ins Unglück stürzt und unser Sozialleben immens beeinflusst. Und das ganz sicher nicht zum Positiven.

So kannst du Scham auflösen

Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft schämen sich, fühlen sich nicht gut genug, oder werden geradezu überrannt von Narzissten mit krankhaft übersteigertem Selbstwertgefühl. 

Wir wissen mittlerweile: Es gibt Wege aus der Scham, vor allem durch Dankbarkeit und Achtsamkeit. Das Anerkennen der eigenen Verletzlichkeit spielt dabei auch eine große Rolle. Bedenke immer: Schwach macht stark, nicht umgekehrt!

Ein Dankbarkeitstagebuch kann ein erster, sehr wirkungsvoller Schritt sein. Notieren Sie täglich mindestens drei Dinge oder Begegnungen, für die Sie dankbar waren. Umarmen Sie dieses Gefühl, und Sie werden schnell lernen, auch im Alltag in den Dankbarkeits-Modus zu schalten. Das hilft sehr bei allen Formen von Scham-Attacken. 

Ich habe mich dazu entschlossen, mir meine Mechanik auch bei Rückschlägen zu verzeihen, und das solltest du auch tun. Du musst nichts verbessern oder verändern, du bist genauso richtig, wie du bist. Und dafür musst du dich nicht schämen, niemals.

Im nächsten Artikel erfährst du konkret, wie du mit Schamgefühl umgehen lernst und bekommst Tipps, wie es dir gelingt, Schuld und Scham aufzulösen.

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